«Verteidigungsfähigkeit muss wieder im Fokus stehen»

 «Verteidigungsfähigkeit muss wieder im Fokus stehen»

Interview mit Hans-Peter Walser

Was bedeutet «Neue Normalität» für Sie?

Dazu gehört, dass ein konventioneller Krieg in Europa nicht mehr nur ein mögliches – und für viele ein wenig wahrscheinliches – Szenario ist. Seit dem 24. Februar 2022 ist er eine traurige Realität. Es ist ein Krieg, der nicht nur im Cyberraum, sondern gleichzeitig in allen operativen Sphären, also auf dem Boden, in der Luft, zur See, im Informations- und im elektromagnetischen Raum und sogar im Weltraum stattfindet und schlussendlich mit den Bodentruppen entschieden wird. Doch nicht nur der Krieg in der Ukraine gehört zur neuen Normalität, sondern auch Herausforderungen wie die immer noch nicht überwundene Pandemie und nun, mitten im Winter, auch die Gefahr einer Gas- und Strommangellage sowie die grosse Anzahl schutzsuchender Menschen in der Schweiz. Die neue Normalität zeichnet sich deshalb für mich besonders durch das Phänomen der Multikrise aus: Das Auftreten mehrerer gleichzeitiger Krisen, deren Auswirkungen sich gegenseitig beeinflussen und sogar verstärken können.

 

Haben die Krisen der letzten Monate und Jahre Ihr unternehmerisches Handeln und Denken verändert?

Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zerfall der Sowjetunion wurde das Leistungsprofil unserer Milizarmee über die Jahre auf die wahrscheinlichen Einsätze in den Bereichen «Helfen» und «Schützen» ausgerichtet. Das «Kämpfen» konnte nur noch teilweise sichergestellt werden, indem die wichtigsten Kompetenzen aufrechterhalten wurden. Die verschiedenen Sparprogramme auf Bundesstufe haben dazu geführt, dass beispielsweise die Logistik und die Bevorratung nach rein betriebswirtschaftlichen statt nach militärischen Grundsätzen ausgerichtet werden musste. Die aktuelle Lage erfordert diesbezüglich definitiv ein Umdenken: Verteidigungsfähigkeit in der ganzen Breite und Tiefe, Robustheit, Resilienz und Durchhaltefähigkeit müssen wieder im Fokus stehen.

 

Wie schätzen Sie die aktuelle Sicherheitslage in der Schweiz ein?

Auch wenn der Krieg in der Ukraine die Sicherheitslage nachhaltig verschlechtert hat, ist die Schweiz nicht direkt bedroht. In diesem Krieg zeigt sich aber, wie das Spektrum der Mittel hybrider Kriegführung zum Einsatz gelangt. Von Desinformation und Beeinflussung, Cyberangriffen über Druckausübung, Erpressung, verdeckten Operationen bis zur Zerstörung ziviler kritischer und lebenswichtiger Infrastrukturen. Von solchen Bedrohungen kann auch die Schweiz betroffen sein, wobei diese praktisch ohne Vorwarnzeit eintreten können. Gleichzeitig bleiben Bedrohungen wie etwa Terrorismus oder organisierte Kriminalität nach wie vor aktuell. Wir können zurzeit in vielen Staaten ein massives Nach- und Aufrüsten beobachten. Schliesslich sind Länder wie Schweden und Finnland nicht länger bündnisfrei, die Aufnahme in die NATO steht bevor. Auch die Schweiz wird ihre Sicherheits- und Verteidigungspolitik konsequenter als bislang auf die internationale Zusammenarbeit ausrichten müssen, wie das der Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 festhält.

 
Wie schnell kann sich ein Land auf eine veränderte sicherheitspolitische Lage einstellen?

Nach dem Kalten Krieg trat vor allem in Europa ein Abrüsten ein, denn die unmittelbare Bedrohung war nicht mehr vorhanden und die Zeichen deuteten auf eine lange Friedensphase hin. In Folge dessen wurden die Fähigkeiten der Schweizer Armee im Bereich der Verteidigung auf den Kompetenzerhalt beschränkt und unter anderem der Armeebestand stark reduziert. Die meisten Nato-Länder richteten ihre Armeen auf Auslandeinsätze aus, was ebenfalls dazu führte, dass die Kompetenzen im Bereich der eigentlichen Bündnis- und Landesverteidigung reduziert wurden. Der Ukrainekrieg hat nun zur Folge, dass viele westliche Staaten die Verteidigungsausgaben erhöhen, um den Wiederaufbau dieser Fähigkeiten voranzutreiben.

Aus militärischer Sicht stehen wir hierbei vor einer besonderen Herausforderung. Einerseits verfügen wir dank der Nachrichtendienste über ein sehr genaues Bild der aktuellen Konflikte und Bedrohungen und sehen am Beispiel des Ukrainekriegs, welche Mittel und Fähigkeiten im Fokus stehen. Andererseits dauern grosse Rüstungsbeschaffungen im Regelfall zwischen acht und zwölf Jahren. Hinzu kommt, dass die Technologie auch in der Rüstungsindustrie sehr schnell voranschreitet. Die Schweizer Armee hat mittels dreier Grundlagenberichte die Weichen für die Zukunft gestellt. Den Auftakt machte 2017 der Bericht «Luftverteidigung der Zukunft». Mit der Vertragsunterzeichnung zum Kauf von 36 F-35A-Kampfjets konnte hier ein wichtiger Meilenstein erreicht werden. Dazu kommen die Berichte «Zukunft der Bodentruppen» aus dem Jahr 2019 und die «Gesamtkonzeption Cyber» mit Datum Frühjahr 2022. In den nächsten 20 Jahren werden viele Hauptsysteme unserer Milizarmee ihr Lebensende erreichen. Der hypothetische Wiederbeschaffungswert dieser Systeme umfasst rund 40 Milliarden Schweizer Franken. Gestützt auf die erwähnten Berichte und auf eine umfassende Planung der künftig benötigten Fähigkeiten geht es darum, unsere Armee wieder in der ganzen Breite und Tiefe verteidigungsfähig zu machen und entsprechend auszurüsten.